Erschienen in „Sein“ Berlin im September 2015
Wenn die Tränen nicht fließen. Ein paar Worte zur menschlichen Blindheit
Die Aufgabe des Verstandes ist es, frühkindlich erfahrene schöne und schmerzliche Ereignisse zu speichern. Natürlich haben wir mit den schönen Ereignissen kein Problem. Wir erinnern uns gern an sie. Es fühlt sich so gut an. Doch wenn uns schmerzliche Erfahrungen nicht loslassen, wenn sie unsere Lebensqualität beeinflussen, wenn sie verhindern, dass wir von innen heraus einfach glücklich sind, so dass das Lebenspotenzial frei fließen kann, haben wir hier und jetzt die Möglichkeit zu erkennen, dass dies vorbei ist. Was dieser wunderbaren Erkenntnis und damit dem Lebensfluss jedoch im Wege steht, ist die schmerzliche Interpretation, der Nachhall der Angstgedanken, die mit dem Ereignis konform gehen. Automatisch werden diese in aktuelle Situationen hineininterpretiert. Blind in Bezug auf das, was hier und jetzt wirklich ist, kreiren wir eine subjektive von blinder Angst durchdrungene Wirklichkeit. Diese menschliche Urangst ist nicht als kraftvolles Wecksignal, die Augen zu öffnen, klar zu sehen, erkannt. Sie äußert sich u.a. als Traurigkeit oder Wut und besitzt genau dadurch eine selbst-zerstörerische Wirkung in erster Linie auf den eigenen Körper. Verbissen kämpfen wir ums Überleben, beißen vielleicht tapfer die Zähne zusammen, so dass der Zahnarzt auch gut leben kann. Mein Abrasionsgebiss zeigte sich schon sehr früh. Doch die Zahntechniker können gute neue Zähne machen. Vielleicht verbieten wir uns die Traurigkeit: Ich darf nicht weinen, muss stark sein. Wenn die Tränen jedoch nicht fließen, kann sich u.a. Druck im Auge aufbauen. Sehstörungen bis zur Erblindung kann die Folge sein. Gut für den Augenarzt. Durch die intelligente Haltung Traurigkeit hier und jetzt zuzulassen, den dazugehörigen Gedanken zu finden und ihn überprüfen, beginnt ein inneres Sehen, ein Erwachen in der Helligkeit des Seins. Kann sein, dass die Tränen, die nun fließen, Tränen der Liebe sind, die nun wahrgenommen wird. Es könnte sich die Augenfunktion normalisieren, doch das ist nicht das Wesentliche. Klarsehen ist Klarsein und das ist Glücklichsein. Dazu braucht es nicht die körperlichen Augen.